Nicht wenige Patienten entwickeln auf dem Hintergrund neurologischer Erkrankungen sogenannte Anpassungsstörungen. Ihnen möchte ich einige grundsätzliche Informationen vermitteln, die ihnen dabei helfen soll, ihr seelisches und körperliches Belastungserleben ein Stück weit reduzieren zu können. Klinische Neuropsychologie ist eine Spezialdisziplin der Psychologie. Psychologie allgemein beschäftigt sich mit den Ursachen unseres Erlebens und Verhaltens: Was bestimmt unser Handeln? Wie entwickeln und verändern sich geistige Fähigkeiten im Verlauf des Lebens? Wie entstehen Gefühle? Wie wirken sie auf das Lernen und unser Handeln? Wie kann es zu seelischen Erkrankungen kommen und wie können sie behoben werden? Neuropsychologie stellt sich diese Fragen aus einem besonderen Blickwinkel: Wie sind diese seelisch-geistigen Vorgänge mit Teilen oder Eigenschaften des Gehirns verbunden?
Ein Teilgebiet der Neuropsychologie, die klinische Neuropsychologie, untersucht die kausalen Beziehungen zwischen krankheitswertigen Verhaltensauffälligkeiten und Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems. Diese Funktionsstörungen können sich auf unsere Wahrnehmung, Motorik, Aufmerksamkeit, auf unser Gedächtnis und auf unsere höheren kognitiven Funktionen beziehen. Aus ihr leitet sich die neuropsychologische Therapie ab. Sie hat zum Ziel, das Ausmaß der durch die organische Erkrankung bedingten Funktionsstörungen sowie die daraus resultierenden Behinderungen zu vermindern oder zu beseitigen.
Die neuropsychologische Therapie unterscheidet drei grundlegende Behandlungsformen:
Funktionstherapien (Restitution):
· Mit dem Begriff Funktionstherapie oder funktionelle Therapie wird eine Behandlungsform
umschrieben, bei der durch spezifische und neuropsychologisch begründete Therapien
ein bestimmtes Verhalten verbessert oder optimiert werden soll.
Kompensationstherapien:
· Diese Behandlungsform dient dazu, die Bewältigungsfähigkeiten des Individuums dann
aufzubauen bzw. zu verbessern, wenn eine Funktionsrestitution nicht mehr möglich ist.
Integrative Behandlungsmethoden:
· Zusätzlich zu den Funktions- und Kompensationstherapien verwendet die Klinische
Neuropsychologie Methoden anderer psychotherapeutischer Verfahren vor allem aus der
Verhaltenstherapie, um damit die Anpassung an die Krankheit und deren Folgen und die
Lebenszufriedenheit der Patienten verbessern zu können. Bei 80 % aller
neuropsychologischen Patienten sind Aufmerksamkeitsstörungen oder -
beeinträchtigungen festzustellen. Nach einem Modell von Posner und Boies können
folgende Komponenten von Aufmerksamkeit unterschieden werden:
Verarbeitungskapazität:
Die Begrenzung der Verarbeitungskapazität beinhaltet bei bewusster
Aufmerksamkeitszuwendung als wesentliche Komponenten:
Die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, die Fähigkeit zu geteilter / paralleler
Informationsverarbeitung und die Fähigkeit zu automatisierter / kontrollierter
Verarbeitung der Informationen.
Während die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit als Basisvariable vieler kognitiver
Prozesse eine Rolle zu spielen scheint und mit unterschiedlich komplexen Reiz-Reaktions-
Verfahren untersucht werden kann, sind Paradigmen zur Untersuchung geteilter bzw.
paralleler Verarbeitungsprozesse bereits dadurch komplexer, dass mehrere Aufgaben
gleichzeitig ausgeführt werden müssen. Hinsichtlich derartiger Verarbeitungsprozesse
können darüber hinaus verschiedene Intensitäten bzw. Tiefen der Verarbeitung
differenziert werden. Im Gegensatz zur kontrollierten Verarbeitung, die mit einem hohen
Maß an Verarbeitungskapazität und einer geringen Verarbeitungsgeschwindigkeit
verbunden ist, erfolgen viele Verarbeitungsprozesse automatisiert. Als "Faustregel" dabei
kann festgehalten werden, dass eine parallele Verarbeitung von Informationen umso
leichter erfolgen kann, je mehr zumindest eine der Komponenten automatisiert abläuft.
Aufmerksamkeitsstörungen unterschieden werden: Kommt es zu einem Konflikt
zwischen
einer automatisierten Reaktionstendenz und einer gerade erforderlichen
kontrollierten Reaktion, so spricht man von einer Störung der fokussierten
Aufmerksamkeit, bei einer reduzierten Geschwindigkeit der Verarbeitung zweier parallel
ablaufender kontrollierter Prozesse kann eine Störung der geteilten Aufmerksamkeit
vorliegen.
Selektivität:
Selektivität grenzt Aufmerksamkeitskonzepte von anderen allgemeinpsychologischen Verarbeitungsmodellen des Gedächtnisses, der Wahrnehmung oder der Motorik ab. (Kontrollierte) Aufmerksamkeitsprozesse werden in ihrer Effizienz besonders durch die Fähigkeit zur Konzentration auf Wesentliches und zur Vernachlässigung irrelevanter Informationen bestimmt.
Alertness (Aktivation, Wachheit):
Der Begriff der Konzentration ist an die Fähigkeit zu einer selektiven Informationsverarbeitung gebunden. Untersuchungen der Konzentrationsfähigkeit erfordern in der Regel schnelles und richtiges Arbeiten an hoch geübtem Material; gebräuchliche Konzentrationstests bestehen zumeist aus Durchstreich-, Rechen- oder Sortieraufgaben.
Lernen und Gedächtnis als Basiskompetenz:
Die Fähigkeit des Lernens, die davon abhängt, dass er über ein Gedächtnis verfügt, ist ebenfalls bei neuropsychologischen Patienten oftmals gestört. Einige Gedächtnismodelle unterschieden Mechanismen für das unmittelbare "Behalten" von Informationen (im "Arbeitsspeicher" / "Kurzzeitgedächtnis") von Mechanismen für das längerfristige Behalten von Informationen (im "Langzeitspeicher" / "Langzeitgedächtnis").
Andere (sequentielle) Modelle differenzieren einzelne Schritte der Informationsverarbeitung, indem sie die Prozesse der Informationsaufnahme, der "Encodierung", des Speicherns, des Abrufs und der Reproduktion genauer betrachten. Zusätzlich kann das "prozedurale Gedächtnis" als "das Wissen über etwas Bestimmtes" von dem "deklarativen Gedächtnis" als "das Wissen, das man etwas weiß" unterschieden werden.
Das "episodische Gedächtnis" bezeichnet das Wissen über Vorfälle in der Vergangenheit mit zeitlichem und räumlichem Charakter, womit die Erinnerung an bestimmte, das eigene Leben betreffende Episoden gemeint ist.
Was sind die wichtigen Störungsbilder der klinischen Neuropsychologie?
"Neglect" (= Vernachlässigung):
Für dieses syndromartige Störungsbild typisch sind Störungen der
Verarbeitungskapazität und der selektiven Informationsverarbeitung, die Störung tritt
meist bei rechts-parietalen Hirnläsionen auf.
Typische Symptome sind:
• Halbseitige Vernachlässigung (v.a. visuell, akustisch und taktil)
• Extinktion (sensorische Vernachlässigung bei beidseitiger Reizung)
• Hemiakinese (einseitige Vernachlässigung der Extremitäten)
• Allesthesie (falsche lokalisatorische Zuordnung von Reizen)
• Vernachlässigung einer Raumhälfte (einseitige Raumoperationen)
• Anosognosie (keine Krankheitseinsicht)
Wahrnehmungsstörungen
:
Da nahezu das gesamte Gehirn an Wahrnehmungsprozessen beteiligt ist bzw. mit
bestimmten Aspekten von Wahrnehmung befasst ist, sind Wahrnehmungsstörungen
bei nahezu allen neuropsychologischen Patienten vorzufinden.
Klassifikationsmöglichkeiten orientieren sich im Allgemeinen an der Differenzierung modalitätsspezifischer Störungsbilder und an der Unterscheidung fundamentaler und höherer Funktionen.
Nachfolgend sollen einige häufig untersuchte Formen von Wahrnehmungsstörungen näher dargestellt werden:
Visuelle Wahrnehmungsstörungen:
• Selektive Beeinträchtigungen können bei der Verarbeitung fundamentaler
Eigenschaften wie Farbe, Kontrast, Bewegung, Sehschärfe, Dichte / räumliche Frequenz, Augenbewegungen oder Gesichtsfeld auftreten. Ferner können Störungen der
Verarbeitung komplexerer Eigenschaften wie Form, Gesichter, Raum
(Entfernung,Größenkonstanz, Geschwindigkeit, Richtung / Orientierung), innere
Rotation, visuell- räumliche Leistungen (Operationen im Greifraum wie z.B. Zeichnen,
Türme bauen usw.) vorliegen.
Auditorische Wahrnehmungsstörungen:
• Selektive Beeinträchtigungen können bei der Verarbeitung fundamentaler
Eigenschaften wie Tonhöhe, Simultanität, zeitliche Reihenfolge (wichtig u.a. für die
Analyse von Bewegungen, von Richtung und Geschwindigkeit der Person / ihrer
Umgebung) Auftreten. Störungen der Verarbeitung komplexerer Eigenschaften wie
Rezeption / Expression von Geräuschen (Naturgeräusche, sinnvolle / sinnlose Geräusche, Sprache, Musik) sind bei Hirnfunktionsstörungen ebenfalls häufig vorzufinden.
Halluzinationen und Denkstörungen:
• Bei Temporallappenepileptikern kommt es im Rahmen der Anfälle oftmals zu
auditorischen, olfaktorischen oder visuellen Halluzinationen, zu
Depersonalisationserlebnissen (die Patienten betrachten sich scheinbar von außen) und zu Derealisationserlebnissen (deja-vu, jamais-vu).
Apraxien:
• Apraxien sind Störungen der Bewegungsprogrammierung im Zusammenhang mit
Hirnfunktionsstörungen. Einzelne Bewegungen können zwar vollzogen werden, die
Steuerung ist jedoch beeinträchtigt. Dabei können Störungen bei Aufforderung von
Störungen bei Intention unterschieden werden. Apraktische Störungen treten meist auf,
wenn mehrere Bewegungen eine Bewegungsfolge bilden sollen (z. B. alltägliche
Handlungsfolgen wie Essen, Ankleiden, Kaffeekochen).
Aphasien:
• Aphasische Störungen sind bei neuropsychologischen Patienten sehr häufig
anzutreffen. Meist treten sie infolge von Störungen der Blutversorgung durch die linke, mittlere Hirnarterie auf. Dabei können mögliche selektive Beeinträchtigungen
verschieden klassifiziert werden: Es können Lesestörungen / Alexien, Schreibstörungen / Agraphien, oder Störungen in der Verarbeitung gesprochener oder tastbarer
Informationen auftreten.
• Es können Sprachverständnis- oder Sprachproduktionsstörungen vorherrschen. Die
Verständnis- und Produktionsstörungen können auf bestimmte Aspekte beschränkt
sein bzw. ein bestimmtes Ausmaß haben, sodass z. B. Silben vertauscht werden
"Wortsalat"), völlig neue Worte gebildet werden ("Neologismen"), semantische
Verwechslungen festzustellen sind (rot-grün, Tisch-Stuhl) oder speziell grammatikalische Fehler gemacht werden (z. B. Telegrammstil).
• Aufgrund bestimmter häufiger Symptomkonstellationen werden nach dem sog.
Bostoner Klassifikationsschema folgende aphasische Syndrome unterschieden:
Brocaaphasie, Wernickeaphasie, Leitungsaphasie, Anomische Aphasie, transkortikal
motorische Aphasie, transkortikal sensorische Aphasie, Alexie / Dyslexie und die
Agraphie.
Amusien:
• Amusien sind Störungen der Wahrnehmung, dem Gedächtnis für und dem Genuss von
Musik und in der Ausführung derselben infolge einer kortikalen Schädigung. Dabei
werden im allgemeinen Störungen der Verarbeitung von Rhythmen von Störungen der
Verarbeitung von Melodien unterschieden. Die Relevanz der Amusien ist nicht zuletzt
durch die hohe Häufigkeit der Störung bei neuropsychologischen Patienten und die
zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Mechanismen für die Verarbeitung von
Sprache und Musik gegeben. Überschneidungen sind besonders in der Verarbeitung
von Metrik, Sprachmelodie und Klangfarbe der Stimme zu sehen. Darüber hinaus ist zu
beachten, dass bei einigen aphasischen Patienten die Fähigkeit zur Verarbeitung dieser
kommunikativ bedeutsamen Aspekte intakt ist, was von großer therapeutischer
Bedeutung ist.
Amnesien:
Amnesien treten meist im Zusammenhang mit Schädel-Hirn-Traumata auf, welche
oftmals infolge von Verkehrsunfällen zu beobachten sind. Hier kommt es typischerweise
zu anterograden und retrograden Amnesien, die sich folgendermaßen darstellen:
• Anterograde Amnesien bezeichnen den Verlust von Erinnerungen an Geschehnisse
nach einem bestimmten kritischen Ereignis (z.B. Schädel-Hirn-Trauma); der Begriff
"anterograde Amnesie" wird auch im Zusammenhang mit Lernstörungen gebraucht.
• Retrograde Amnesien bezeichnen den Verlust von Erinnerungen an Geschehnisse vor
einem bestimmten kritischen Ereignis; retrograde Amnesien werden zusätzlich danach
unterteilt, ob nur unmittelbar vor dem kritischen Ereignis liegende Geschehnisse
schlecht, weiter zurückliegende Geschehnisse dagegen gut erinnert werden können
(retrograde Amnesie mit zeitlichem Gradienten), oder ob alle Geschehnisse vor einem
kritischen Ereignis in gleicher Weise betroffen sind (retrograde Amnesie ohne zeitlichen
Gradienten).
• Amnestische Störungen sind bei verschiedenen neuropsychologischen
Patientengruppen in unterschiedlicher Art und Ausprägung vorzufinden: Bei Patienten
mit Morbus Korsakoff sind beispielsweise im postakuten Stadium der Krankheit sowohl
Lernstörungen festzustellen, als auch retrograde amnestische Beeinträchtigungen mit
zeitlichem Gradienten, wohingegen Patienten, die an einer Huntington-Demenz leiden,
im Spätstadium der Krankheit vor allem retrograde amnestische Beeinträchtigungen
ohne zeitlichen Gradienten im Vordergrund stehen.
Demenzen:
• Demenzen werden von Joynt und Shoulson als "ungewöhnlicher Verlust intellektueller
Fähigkeiten" definiert, wobei dieser Verlust oftmals degenerativ und irreversibel ist. Tritt
eine Demenz vor dem vollendeten 65. Lebensjahr auf, so spricht man von einer
"präsenilen Demenz". Von allen Diagnosen einer Demenz entfällt
• die Hälfte auf die Alzheimerdemenz,
• 15 % auf die Multiinfarkt-Demenz (Volksmund: "Verkalkung"),
• 25 % auf Mischformen infolge verschiedenster pathologischer Entwicklungen
• und 10 % auf die Diagnose "Pseudodemenz", welche den Umstand bezeichnet, dass
meist durch das Vorherrschen einer depressiven Symptomatik in gesteigertem Alter
fälschlicherweise vom Vorliegen einer dementiellen Erkrankung ausgegangen wird.
Klassifikationsschemata orientieren sich im Allgemeinen an einer Unterteilung der Demenzen in:
• lokalisierbare Demenzen, bei denen die Beeinträchtigungen auf physiologische
Dysfunktionen in umschriebenen Hirnarealen (kortikal, frontal-subkortikal, axial)
zurückzuführen sind,
• und gemischte Demenzen, bei denen kein einheitliches Störungsbild ausgemacht
werden kann oder die Störungen nicht auf Dysfunktionen in umschriebenen Hirnarealen
zurückgeführt werden können.
Weitere Publikationen:
No Name - Der Menschenfreund